Bis ins 20. Jahrhundert war es ein Rätsel wodurch Migräne ausgelöst wird und was dabei im Körper passiert. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler aber viele der Mechanismen entdeckt die beim Entstehen und bei der Entwicklung einer Migräneattacke eine Rolle spielen. Dieser Artikel wird sich mit den wichtigsten dieser Mechanismen beschäftigen.
Wie eine Migräneattacke aussieht
Im Gehirn laufen viele komplizierte biochemische und elektrische Prozesse ab, und manche davon werden noch nicht einmal von der Wissenschaft vollkommen verstanden – daher ist es keine Überraschung dass die Beschreibung einer Migräneattacke nicht einfach ist. In diesem Artikel werden wir daher versuchen diesen Prozess so einfach wie möglich für Sie darzustellen, auch wenn Sie nicht viel über Nervenzellen und Chemie wissen.
Zu Beginn kann es hilfreich sein, sich mit einem Vergleich vorzustellen was passiert wenn eine Migräneattacke getriggert wird: stellen Sie sich eine große Truppe von Tänzerinnen vor die einen Tanz zu Musik aufführen. Die Musik gibt an wann sie welche Bewegung ausführen sollen.
Diese Vorstellung ist natürlich etwas absurd, aber der Ablauf ist in etwa mit der Kettenreaktion vergleichbar die im Gehirn stattfindet wenn eine Migräneattacke getriggert wird. Mit den genauen biologischen Prozessen dahinter setzen wir uns jetzt auseinander.
Das Gehirn vor einer Migräneattacke
Das gesamte Gehirn mit all seinen Nervenzellen und der ECF ist von Hirnhaut umgeben. An der Außenseite der Hirnhaut befinden sich die Arterien die das Gehirn mit Sauerstoff und Blut versorgen. Die Nervenzellen innerhalb des Gehirns können keinen Schmerz empfinden, aber die Arterien an der Außenseite haben schmerzempfindliche Nervenenden, sogenannte Schmerzrezeptoren.
Im Normalfall, wie er in Abbildung 5 dargestellt wird, ist die K+-Konzentration (Kalium-Ionen) hoch innerhalb der Nervenzellen und niedrig in der ECF. Bei Na+ (Natrium-Ionen) ist es genau umgekehrt.
Wenn eine Nervenzelle ein Signal sendet, treten einige der Kalium-Ionen aus der Zelle aus in die ECF, und einige der Natrium-Ionen gelangen in die Zelle, ungefähr so wie bei unseren Tänzerinnen wenn eine von ihnen eine Murmel verliert.
Das natürliche Gleichgewicht der Ionen wird durch sogenannte “Natrium-Kalium-Pumpen” innerhalb der Zellmembran aufrechterhalten. Diese Pumpen befördern laufend K+ aus der ECF in die Zellen und Na+ aus den Zellen in die ECF. In unserem Beispiel heben die Tänzerinnen die Murmeln auf sobald sie auf den Boden fallen.
Eine Migräneattacke wird getriggert
Es gibt eine große Zahl von Hinweisen darauf dass Migräneattacken getriggert werden wenn die K+-Konzentration in der ECF zu hoch ist. Das entspricht der Situation wo die Tänzerin so viele Murmeln fallen gelassen hat dass sie darauf ausrutscht. Die Erhöhung von K+ in der ECF kann folgende Gründe haben:
- Wenn die Natrium-Kalium-Pumpen nicht genug Sauerstoff und/oder Blutzucker bekommen können die Kalium-Ionen nicht schnell genug aus der ECF gepumpt werden und die Konzentration von K+ in der ECF erhöht sich. Das kann passieren wenn die Arterien die diesen Bereich des Gehirns versorgen verengt sind sodass nicht ausreichend Blut durch sie fließen kann. Dadurch bekommen wiederum die Natrium-Kalium-Pumpen nicht genug Sauerstoff und Blutzucker. Wenn Sie seit einiger Zeit nichts gegessen haben kann Ihr Blutzucker so niedrig sein dass die Natrium-Kalium-Pumpen nicht die Energie bekommen die sie benötigen um die Kalium-Ionen schnell genug aus der ECF zu entfernen.
- Wenn die Nervenzellen in kurzer Zeit sehr viele Signale gesendet haben erhöht sich K+ in der ECF (erinnern Sie sich: einige Kalium-Ionen verlassen die Nervenzellen jedes Mal wenn die Zelle ein Signal sendet). Das kann z. B. der Fall sein wenn Sie sehr gestresst oder übermüdet sind.
- Wenn zu wenig K+ durch den Blutfluss, der normalerweise dabei hilft einen Teil des überschüssigen K+ wegzuschwemmen, entfernt wird. Das passiert wenn der Blutfluss in diesem Teil des Gehirns unzureichend ist.
Abbildung 6 zeigt die Situation wo sehr viel K+ aus einer Nervenzelle ausgetreten ist sodass die K+-Konzentration in der ECF darum herum zu hoch ist:
Eine Kettenreaktion beginnt
Wenn die CSD-Welle eine Nervenzelle erreicht bricht das natürliche Na+-und K+-Verhältnis zusammen, was wiederum dazu führt dass sich die CSD schneller ausbreitet.
Die nächste Stufe dieses Teufelskreises ist erreicht wenn (wie in Abbildung 8 zu sehen ist) genügend K+ in die ECF um die Nervenzelle gelangt ist. Das überschüssige K+ stellt einen Schlüssel dar der einen bestimmten Kanal in der Zellmembran öffnet:
Wenn all diese Natrium-Ionen in die Nervenzelle eintreten wird sie depolarisiert (in Abbildung 9 durch den Farbwechsel der Nervenzelle dargestellt). Das bedeutet dass sie ihre normale elektrische Ladung verliert und nicht mehr richtig funktioniert bis sie durch die Natrium-Kalium-Kanäle wieder aufgeladen wurde.
Das Öffnen der NMDA-Kanäle erlaubt es auch den Kalium-Ionen in die ECF auszutreten (wie die Tänzerin alle ihre Murmeln verliert wenn sie stürzt):
Diese Kettenreaktion springt von Zelle zu Zelle, öffnet NMDA-Kanäle, depolarisiert die Zellen und hebelt das natürliche Gleichgewicht von Na+ und K+ aus. Zu diesem Zeitpunkt erfahren einige MigränepatientInnen eine Migräne-Aura, da die CSD die normale Zellfunktion stört.
Die Kopfschmerzen setzen ein
Sensibilisierung
CGRP ruft Entzündungen hervor was die Attacke verschlimmert und auch verlängert. Zu diesem Zeitpunkt kann es zu einer sogenannten Sensibilisierung kommen, was bedeutet dass die Schmerzrezeptoren und das Gehirn selbst noch empfindlicher werden was wiederum die Symptome verschlimmert.
Die Normalisierung beginnt
Während sich die Attacke entwickelt ist das Gehirn gleichzeitig dabei sich zu normalisieren indem es schmerzinduzierende Moleküle entfernt und versucht das Gleichgewicht zwischen Natrium- und Kalium-Ionen wiederherzustellen. Dieser Prozess läuft schneller ab wenn Sie schlafen weshalb Schlaf eine der besten Mittel gegen Migräne ist. Allerdings kann es immer noch eine lange Zeit dauern bis sich der Körper wieder erholt hat.
Zusammenfassung
Migräneattacken werden getriggert wenn Gehirnzellen ihr natürliches Gleichgewicht von Natrium- und Kalium-Ionen verlieren, z. B. wenn sie nicht genügend Sauerstoff erhalten. Das führt zu einer Kettenreaktion namens Kortikale Streudepolarisierung (CSD) die zur Destabilisierung von noch mehr Nervenzellen und der Freisetzung von schmerzinduzierenden Molekülen führt.
Wenn genug Gehirnzellen von der CSD-Welle betroffen sind wandert eine große Anzahl von Schmerzmolekülen durch die Hirnhaut und erreicht nach einer Weile die Schmerzrezeptoren an der Außenseite des Gehirns. Das verursacht die Migränekopfschmerzen.
Weil der Zusammenbruch des natürlichen Gleichgewichts des Gehirns so drastisch ist und so viele Schmerzauslöser freigesetzt werden kann es Tage dauern bis das Gehirn in seinen Normalzustand zurückgekehrt ist.